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Einrichtung: FrauenMediaTurm | Köln
Signatur: Z-Ü107:1988-6-a
Formatangabe: Bericht
Link: Volltext
Verfasst von: Markmeyer, Bettina
In: EMMA
Jahr: 1988
Heft: 6
ISSN: 0721-9741
Sprache: Nicht einzuordnen
Beschreibung:
Ein Platz für Mädchen
(EMMA 6/1988, S. 40)

Die Gewalt gegen Mädchen ist kein Tabu-Thema mehr. Überall in der Bundesrepublik schließen sich Frauen zusammen, um Mädchenhäuser zu gründen. Sie wollen Raum schaffen, wo Mädchen selbstbestimmt und selbstbewußt leben können. Außerhalb von Heimen und ohne Familie. Löst in den 80er Jahren die Mädchenhaus-Bewegung die Frauenhaus-Bewegung der 70er ab?

Mitte März wurde in München das zweite bundesdeutsche "Mädchenhaus" eröffnet. Drei Wochen später, im April, waren von zehn Plätzen bereits acht belegt. Sieben Frauen arbeiten im Münchner "Mädchenhaus" rund um die Uhr. "Bald sind wir voll, und dann geht's los mit der Warteliste", sagt die Pädagogin Jutta Ecke.

Es ist wie mit den "Frauenhäusern" (für geschlagene Frauen) in den 70er Jahren. Kaum hatte irgendwo eins neu aufgemacht, war es auch schon überfüllt. Die Gewalt gegen Frauen macht vor Mädchen nicht halt. Zum Beispiel Simone*. Sie ist vor den Schlägen und sexuellen Mißhandlungen ihres Vaters ins Hamburger Mädchenhaus geflohen, das erste, das vor fünf Jahren seine Arbeit aufnahm. Simone ist heute 17 Jahre alt. Als sie zwölf war, reichte ihre Mutter die Scheidung ein. Aus Angst vor ihrem Mannüberließ sie ihm das Sorgerecht für die Kinder. Simone und ihre ältere Schwester Julia* kamen ins Heim.

Nach zwei Jahren kehrt Simone zurück zu ihrem Vater, weil sie es im Heim nicht mehr aushält; ihre Schwester bleibt dort. Zuhause muß sie für den Vater und ihren jüngeren Bruder den Haushalt führen. Ihr Vater verprügelt sie bei jeder Gelegenheit. Und er zwingt seine Tochter unter Schlägen, mit ihm zu schlafen. Regelmäßig. Drei Jahre lang. Eines Tages schlägt er so brutal zu, daß Simone ins Krankenhaus muß. Von dort kehrt sie nicht nach Hause zurück, sondern flüchtet ins "Mädchenhaus". Mit ihrerälteren Schwester Julia zusammen, die als Kind ebenfalls vom Vater mißbraucht worden ist, erstattet sie nun Anzeige gegen ihn. Dem Vater wird sofort das Sorgerecht entzogen, und er kommt in Untersuchungshaft. Simone versucht zurechtzukommen. Der Prozeß gegen ihren Vater steht ihr noch bevor. Zunächst einmal muß sie ein Zuhause finden.

Ayla*, eine junge Türkin, ist 15 Jahre alt. Sie lebt schon seit einigen Wochen im Hamburger Mädchenhaus. Seit sie 14 ist, hat sie alle Hausarbeiten gemacht und drei jüngere Geschwister versorgt. Zur Schule ging sie kaum noch, sie wurde streng kontrolliert, durfte mit keinem Jungen sprechen. Ihr Vater schlug sie. Nichts habe sie zuhause recht machen können, sagt Ayla, ein Tier wäre besser behandelt worden als sie.

Vor vier Monaten haben ihre Eltern sie mit einem Mann verlobt, den sie nicht kennt und auf gar keinen Fall heiraten will. Nach einem Selbstmordversuch hat sie vorübergehend bei einer Tante gewohnt. Wieder zuhause erfährt der Vater, der zwischenzeitlich in der" Türkei gewesen ist, was sich abgespielt hat. Er tobt vor Wut und geht mit einem Hackmesser auf seine Tochter los. In panischer Angst flieht Ayla ins Mädchenhaus.

Ayla will in die Türkei zurück. Sie hat dort bis zu ihrem zehnten Lebensjahr bei Verwandten gelebt. Dort - weit weg von ihrem Vater - fühlt sie sich wohl. Sobald alles geklärt ist, wird sie fahren. "Das ist ungewöhnlich", erklärt Ursula Funk vom Hamburger Mädchenhaus. "Normalerweise wollen die türkischen Mädchen in der Bundesrepublik bleiben." Solange sie zur Schule gingen oder eine Ausbildung machten, sei es meistens auch unproblematisch, ihre Aufenthaltsgenehmigung zu verlangen. Ursula Funk: "Geschichten wie die von Ayla gehören zum Alltag im Mädchenhaus." "Mädchenhäuser" sind, wie , .Frauenhäuser", rund um die Uhr erreichbar. Mädchen, die bedroht, geschlagen oder sexuell mißhandelt werden, die von zuhause weggelaufen sind oder sonst in einer schwierigen Situation stecken, finden hier Schutz und Unterstützung. Sie bleiben, solange sie wollen. Und: Sie sind freiwillig dort. Sie können jederzeit wieder gehen. Der Anspruch der Mitarbeiterinnen: "Nichts geschieht über die Köpfe der Mädchen hinweg."

"Bei der Aufnahme besprechen wir mit dem Mädchen, weshalb sie gekommen ist und was zu tun ist", erklärt Irmgard Heinkel vom Münchner Mädchenhaus. "Später informieren wir die Eltern oder Erziehungsberechtigten darüber, daß das Mädchen bei uns ist. Wenn sie nicht einverstanden I

sind, das Mädchen aber hier bleiben will, können wir ihnen vorübergehend das Aufenthaltsbestimmungsrecht entziehen lassen." Oft kommen Mädchen im "Mädchenhaus" zum erstens Mal in ihrem Leben zur Ruhe, Sie können hier offen über alles reden, werden aber nicht zum Reden gezwungen. Im Schutz des Mädchenhauses überlegen sie gemeinsam mit den Betreuerinnen, wie es für sie weitergehen soll: Schule oder Ausbildung? Jugend-WG oder zurück nach Hause? Sie können an Gesprächskreisen und Selbsthilfegruppen teilnehmen oder eine Therapie anfangen. Bisher existieren in der BRD , erst zwei solcher Zufluchtstätten für Mädchen in Not: in l Hamburg und in München. In Hamburg wurde die Idee im Zusammenhang mit der Heimreform geboren. Ende der 70er Jahre begannen die Hanseatlnnen, ihre großen städtischen Heime aufzulösen und stattdessen kleinere Einrichtungen, wie zum Beispiel Ju- gendwohngemeinschaften, aufzubauen. Außerdem wollte die Jugendbehörde eine Anlaufstelle für jugendliche Prostituierte schaffen, da diesen Mädchen sonst der Jugendknast drohte. Vorschläge und Initiativen von Frauen aus allen Bereichen der Mädchenarbeit, besonders aber aus den Heimen, sowie das Vorbild der Frauenhäuser führten dann aber zur heutigen Konzeption des Mädchenhauses. (Heute j sind nur etwa 10 Prozent aller jungen Frauen, die dorthin kommen, Prostituierte, die aussteigen wollen oder auch nur vorübergehenden Schutz suchen. In München haben Feministinnen im 1985 gegründeten Verein "Initiative Münchner Mädchen Arbeit" (I.M.M.A.) gut zwei Jahre an der Einrichtung einer Zufluchtstelle gearbeitet. Im Frühjahr 1986 wurden zum ersten Mal Gelder bei der Stadt München beantragt, Während das Hamburger Mädchenhaus als Teil des "Kinder- und Jugendnotdienstes" ins Amt für Jugend integriert ist, wollen die Münchner Feministinnen mit ihrem Mäd- chenhaus autonom bleiben. Die knapp 430.000 Mark, die j sie jährlich brauchen, wurden ihnen erstmals im Haushalt 88 bewilligt - gegen die CSU mit den Stimmen der SPD, der Grünen und der FDP. (Zusätzliche Therapieangebote finanziert die Stiftung "Jugendmarke", und vom bayerischen Minister für Arbeit und Sozialordnung kommen 80 Prozent der Gelder für eine wissenschaftliche Begleitforschung.) Inzwischen gibt es in mindestens fünf weiteren Städten , ,Mädchenhaus-Vereine" oder -Initiativen, die in die praktische Arbeit einsteigen wollen. Im März trafen sich die Mädchenhaus-Frauen in Bielefeld zu einer Wochenendtagung. Eingeladen hatten die Bielefelderinnen, die fast alle aus der Mädchenheimarbeit kommen. Sie wollen so bald wie möglich ein autonomes Mädchenhaus aufmachen mit Beratungs- und Zufluchtsstelle sowie langfristigen Wohnangeboten.

Im Heim, so das Fazit der Bielefelderinnen, kommen die Mädchen genauso zu kurz wie in den Familien. Zu ihren Gewalterfahrungen .draußen' kommen .drinnen' neue hinzu. "Mit unseren feministischen Konzepten scheitern wir immer wieder an der Routine des Heimalltags", sagt eine der Initiatorinnen. "Wir können dort den Problemen der Mädchen nicht annähernd gerecht werden. Folgen von sexuellem Mißbrauch wie zum Beispiel Verhaltensstörungen werden meistens gar nicht erkannt. Oder sogar bestraft. Im Mädchenhaus ist das anders." In Stuttgart, so hoffen die beiden Mitarbeiterinnen der evangelischen Beratungsstelle "Kobra", soll bereits in diesem Sommer eine Zufluchtstelle ausschließlich für sexuell mißbrauchte Mädchen eröffnet werden. Zur Zeit müssen die Beraterinnen die Mädchen, die in die Beratungsstelle kommen, noch an Heime verweisen oder wieder nach Hause schicken. Sechs bis acht Wohnplätze wollen die Stuttgarterinnen anbieten, und bei ihnen ist ausnahmsweise einmal nicht das Geld, sondern die fehlende Wohnung das Problem.

So auch in Berlin. Mit 2,5 Millionen Mark fördern dort das Süßmuth-Ministerium und das Land Berlin je zur Hälfte einen Teil der Arbeit des, Wildwasser"-Vereins. Das Modellprojekt konzentriert sich ebenfalls - gemäß der jahrelangen Arbeit von "Wildwasser" - auf sexuell mißbrauchte Mädchen. Gefördert werden eine Beratungsstelle, der eine sogenannte Krisenwohngemeinschaft für maximal zehn Mädchen angeschlossen ist, sowie die Begleitforschung an der Technischen Universität, für die zwei Stellen zur Verfügung stehen. Die Modellfinanzierung ist auf drei Jahre befristet.

Dem Frankfurter Mädchenhaus-Projekt dagegen droht wie vielen anderen Frauenprojekten in Hessen nach der " Wende jetzt das Aus. Wurden dem Modell unter rot-grüner Regie immerhin 400.000 Mark jährlich zugesagt, stellt die Frauenbeauftragte Otti Geschka (CDU) für 1988 gerade noch 100.000 Markzur Verfügung. Damit lassen sich wohl die Beratungsstelle und der Freizeittreff für Mädchen finanzieren, nicht aber, wie geplant, eine Zufluchtstelle, Wohngruppen für Mädchen und Ausbildungsangebote. Die Mädchenhausfrauen waren sich auf der Bielefelder Tagung darüber einig, daß Hilfe in Notlagen und Schutz vor akuter Gewalt unabdingbar sind. Aber sie wollen über die bloße Krisenintervention hinauskommen. "Ein bis zwei Wochen durchschnittlich sind die Mädchen bei uns, länger nicht", schätzt Ursula Funk vom Hamburger Mädchenhaus. Viel zu kurz für grundlegende Veränderungen ihrer Situation.

Noch nicht einmal im Berliner Modellprojekt sind Gelder für Langzeitwohnmöglichkeiten für Mädchen vorgesehen. Und im Bereich der Vorbeugung, die zukünftige Gewalt gegen Mädchen schon heute vermindern helfen könnte, sieht es noch viel schlechter aus. Wenn's brennt, wird gelöscht. Aber den Bränden vorbeugen wollen Bund, Länder und Kommunen nicht. Kein Wunder. Hieße das doch, die Familie selbst infrage zu stellen, in der Mädchen nicht nur männlicher Macht oft hilflos ausgeliefert sind, sondern auch noch gezwungen werden, darüber zu schweigen. Noch haben sie nur wenige Alternativen. Deshalb müssen wir neue Lebensräume schaffen", sagen die Mädchenhaus-Frauen. "Wir sprechen von starken und selbstbewußten Mädchen, die selbst über ihr Leben bestimmen wollen. Und das können sie in ihren Familien oft nicht. Und schon gar nicht in Heimen."

Die Mädchenhaus-Initiativen der späten 80er Jahre werden es keineswegs leichter haben als die Frauenhausbewegung der 70er Jahre. Im Gegenteil. Die Aufbruchstimmung von einst ist längst einem frauenpolitischen Pragmatismus gewichen. Feministische, autonome Mädchenhaus-Initiativen konkurrieren heute um den kleiner werdenden Anteil der Sozialausgaben mit Kirchen, Parteien und Verbänden, die ihre eigenen Auffassungen von Mädchenarbeit haben. "Trotzdem. Wir dürfen uns keinesfalls auf die feministische Insel zurückziehen. Wir müssen auch in Verbänden und anderen Institutionen unsere Ideen vertreten. Unsere Arbeit ist nötig, wir wollen sie machen, und wir werden sie machen", stellten die Mädchenhaus-Frauen auf ihrem Treffen in Bielefeld einhellig fest.

BETTINA MARKMEYER * Name von der Redaktion geändert.
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